Haftungsrechtliche Anforderungen an die Behandlung suizidgefährdeter Patienten

|| Medizinrecht

OLG Dresden Beschluss vom 02.11.2021 (Az.: 4 U 1646/21

Das OLG Dresden befasste sich in seinem Beschluss vom 02.11.2021 (Az.: 4 U 1646/21) mit der Frage, inwieweit ein ärztlicher Behandlungsfehler vorwerfbar ist, wenn ein suizidgefährdeter Patient aus der stationären Behandlung entlassen wird und sodann in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang Suizid begeht.

Der Beschluss des Gerichts gibt Anlass, einmal grundsätzlich darüber nachzudenken, welche Maßstäbe aus rechtlicher Sicht für die Behandlung von Menschen mit Suizidgedanken anzuwenden sind. Hierbei handelt es sich um ein äußerst sensibles Thema - das in der Rechtsprechung jedoch hin und wieder behandelt wird und daher zu diskutieren ist.

Dem Hinweisbeschluss, in dem der Senat ankündigte, die Berufung des Klägers ohne mündliche Verhandlung zurückzuweisen, liegt der folgende Sachverhalt zu Grunde:

Der Kläger trat für seinen Vater auf, der bereits seit seinem 20. Lebensjahr an rezidivierenden Depressionen litt und sich deshalb auch in dauerhafter Behandlung befand. Ab dem 11.04.2013 befand er sich ein weiteres Mal in stationärer Behandlung bei der beklagten Klinik. Am 21.05.2013 äußerte er konkrete starke suizidale Gedanken, woraufhin zunächst eine Ausgangssperre verhängt wurde. Diese wurde am 22.05.2013 wieder aufgehoben, nachdem der Patient angab, sich von seinen Suizidgedanken distanziert zu haben. Sowohl am 23.05.2013 als auch am 24.05 2013 äußerte der Patient einen Entlassungswunsch bei ambulanter Weiterbehandlung. Diesen begründete er damit, dass er stationär nicht weiterkomme und sich zurück im richtigen Leben seinen Verantwortungen stellen müsse. Der Patient wurde am 24.05.2013 entlassen und verübte am selben Abend Suizid.

1.
Das OLG Dresden trat in seinem Beschluss dem Vorwurf des Klägers entgegen, in der Entlassung seines Vaters trotz Kenntnis zu voriger Suizidgedanken liege ein Behandlungsfehler. Ein Psychiater hätte die Chancen und Risiken einer schrittweise zu gewährenden Freiheit bei der Entscheidung über eine Entlassung in die ambulante Weiterbehandlung abzuwägen. Konkret stehe der Gebotenheit von Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz des Lebens der Patienten gegenüber, dass zur Therapie suizidgefährdeter Personen auch gehört, diese in ihrer Eigenverantwortlichkeit zu stärken. Eine daraus resultierende Inkaufnahme von Risiken für den Patienten sei in gewissen Konstellationen therapeutisch geboten und stelle keinen ärztlichen Behandlungsfehler dar.

2.
Das OLG Dresden äußerte sich darüber hinaus dazu, ob bei Entlassung eine Benachrichtigung der Angehörigen oder Lebenspartner erfolgen müsse.

In dem zugrunde liegenden Sachverhalt monierte der Kläger, dass die Freundin seines Vaters nicht von dessen Entlassung unterrichtet wurde. Der zu der Thematik befragte Sachverständige gab hierzu an, dass es aus therapeutischen Gründen tatsächlich gut gewesen wäre, die Freundin des Patienten von der Entlassung zu informieren oder einen Angehörigen um Abholung aus der Klinik zu bitten.

Dennoch sah das OLG Dresden hierin keinen Verstoß gegen den Behandlungsstandard, sondern lediglich einen Hinweis dafür, dass es ex post ratsam gewesen wäre, den Patienten in die Obhut von Angehörigen zu entlassen. Ein behandlungsfehlerhaftes Verhalten wäre lediglich dann zu prüfen, wenn sich die behandelnden Ärzte erkennbar unsicher über eine suizidale Dynamik mit einer daraus potentiell möglichen Gefährdung gewesen wären.

3.
Bereits im Jahr 1985 hat der BGH mit Urteil vom 08.10.1985 (Az.: VI ZR 114/84 (KG)) entschieden, dass die Inschutznahme des suizidgefährdeten Patienten „vor sich selbst“ im Zentrum des Anlasses der Behandlung dieses Patienten stehe und damit einen grundsätzlichen rechtlichen Leitgedanken manifestiert.

Es handele sich hierbei nicht nur um eine das Behandlungsverhältnis lediglich begleitende Nebenpflicht. Krankenhausärzte und Personal hätten die Aufgabe, den Patienten während der Behandlungszeit vor selbstschädigenden Handlungen zu bewahren. In diesem Rahmen sei von den Behandlern zu erwarten, die notwendigen organisatorischen Maßnahmen zu ergreifen.

4.
Analog zum obigen Urteil des OLG Dresden, entschied sich das OLG Naumburg im Jahr 2000 (Az.: 1 U 140/99) bereits für Gegenüberstellung und Abwägung dieses Schutzerfordernisses gegenüber der Inkaufnahme von therapeutisch gebotenen Risiken. Der Psychiater hätte im Rahmen der Behandlung über die Gefahr einer schrittweise zu gewährenden Freiheit zu entscheiden.

5.
Die Förderung der Freiheit und der Selbstständigkeit des suizidgefährdeten Patienten spielt mithin nicht nur aus medizinischer, sondern auch aus juristischer Sicht die entscheidende Rolle. Die Quintessenz der haftungsrechtlichen Rechtsprechung kommt in der folgenden Phrase treffend zum Ausdruck, die sich im Urteil des OLG Naumburg unter Verweis auf Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des ArztR, wiederfindet:

„Gewährt er [der behandelnde Psychiater] diese Freiheit nicht, wird er zwar eher vor dem größten therapeutischen Fehlschlag, dem Tod des Patienten, bewahrt, verhindert aber gleichzeitig die zur Lebensbejahung notwendige Verwirklichung von Autonomie.“


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