|| Arbeitsrecht
Einleitung
Die Wirksamkeit einer auf häufige Kurzerkrankungen gestützten ordentlichen Kündigung setzt zunächst eine negative Gesundheitsprognose voraus. Im Kündigungszeitpunkt müssen objektive Tatsachen vorliegen, die die Besorgnis weiterer Erkrankungen im bisherigen Umfang befürchten lassen. Häufige Kurzerkrankungen in der Vergangenheit können indiziell für eine entsprechende künftige Entwicklung sprechen (erste Stufe). Die prognostizierten Fehlzeiten sind nur dann geeignet, eine krankheitsbedingte Kündigung zu rechtfertigen, wenn sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der betrieblichen Interessen führen. Dabei können neben Betriebsablaufstörungen auch wirtschaftliche Belastungen, etwa durch zu erwartende, einen Zeitraum von mehr als sechs Wochen pro Jahr übersteigende Entgeltfortzahlungskosten, zu einer solchen Beeinträchtigung führen (zweite Stufe). Ist dies der Fall, ist im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung zu prüfen, ob die Beeinträchtigungen vom Arbeitgeber billigerweise nicht mehr hingenommen werden müssen (dritte Stufe). Die Entscheidung beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung das bEM für die Rechtfertigung einer krankheitsbedingten Kündigung hat und unter welchen Voraussetzungen ein bEM als ordnungsgemäß durchgeführt gelten kann.
Sachverhalt
Der Arbeitgeber beschäftigt in seinem Betrieb ca. 8.000 Mitarbeiter. Nach einer Beschäftigungsdauer von ca. 6 Jahren wurde einem ledigen, kinderlosen Produktionsfacharbeiter aus krankheitsbedingten Gründen gekündigt. Er war im Jahr 2016 an insgesamt 31,7 Arbeitstagen, im Jahr 2017 an insgesamt 51 Arbeitstagen, im Jahr 2018 an insgesamt 42 Arbeitstagen und im Jahr 2019 an insgesamt 43 Arbeitstagen arbeitsunfähig krank gewesen. Für sämtliche Fehltage musste der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung leisten. Im Jahr 2020 bis zum Ausspruch der Kündigung war der Mitarbeiter erneut arbeitsunfähig vom 6.01 bis 10.01 krank und bezog Entgeltfortzahlung.
Der Arbeitgeber hatte den Produktionsfacharbeiter im Januar 2020 zu einem betrieblichen Eingliederungsmanagement (bEM) eingeladen. Auf diese Einladung hat der Kläger, wie auch schon auf vergangene Einladungen, nicht reagiert.
Im Betrieb des Arbeitgebers besteht eine Betriebsvereinbarung über das betriebliche Eingliederungsmanagement, in der es auszugsweise heißt:
„Das betriebliche Eingliederungsteam (BET) besteht aus benannten Vertretern der Personalabteilung, des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung, des MED und des HSS. Der angeschriebene Mitarbeiter kann zusätzlich zum betreuenden HR BP aus den Mitgliedern des BET grundsätzlich eine weitere Person hinzuziehen. Wenn Anpassungen des Arbeitsplatzes, -prozesses oder der -bedingungen erforderlich sind, kann das Integrationsteam - sofern vorhanden - hinzugezogen werden. Hierfür ist das Einverständnis des MA notwendig. Erteilt der MA sein Einverständnis nicht, führt das BET das bEM mit den dem BET möglichen Maßnahmen fort. Das Integrationsteam besteht aus Vertretern des Betriebsrats, der Schwerbehindertenvertretung, der Arbeitsplanung, der örtlichen Standortleitung, dem Arbeitgeberbeauftragten für Schwerbehinderte, HRL, MED, HSS, HSE.“
Die Betriebsvereinbarung verlangt zudem die Übersendung einer Datenschutzerklärung mit dem Einladungsschreiben zum bEM die auszugsweise wie folgt lautet:
„Ich bin damit einverstanden, dass die Angaben, die im Rahmen des bEM erhoben werden, den am Prozess Beteiligten (insbesondere dem betrieblichen Eingliederungsteam (BET) und ggf. dem Vorgesetzten, dem Übersetzer, und bei erforderlichen Veränderungen des Arbeitsplatzes HSE, TEF, Standortleitung) bekannt gemacht werden. Zweck der Datenerhebung ist es, Arbeitsunfähigkeit zu überwinden und/oder erneuter Arbeitsunfähigkeit vorzubeugen sowie den Arbeitsplatz zu erhalten.“
Im Kündigungsschutzverfahren rügte der Produktionsmitarbeiter die ordnungsgemäße Einleitung des bEM Verfahrens. Er behauptete, die im Einladungsschreiben benannten Anlagen (Antwortschreiben, Datenschutzunterrichtung und Liste der BET-Mitglieder) nicht erhalten zu haben.
Entscheidung
Das LAG hat dem Mitarbeiter auf der ersten Stufe anhand der Häufigkeit Erkrankungen in der Vergangenheit und der mitgeteilten Diagnosen eine negative Gesundheitsprognose gestellt.
Diese Fehlzeiten führen beim Arbeitgeber auf der zweiten Stufe zu erheblichen Beeinträchtigungen betrieblicher Interessen. Der Arbeitgeber habe ausgehend von dieser Prognose auch weiterhin mit deutlichen Entgeltfortzahlungsbelastungen zu rechnen, die über die zumutbare Sechswochengrenze hinausgingen.
Die Kündigung scheiterte jedoch auf der dritten Stufe im Rahmen der gebotenen Interessenabwägung. Dies sei unverhältnismäßig, weil der Arbeitgeber die Durchführung eines BEM nicht ordnungsgemäß eingeleitet habe.
Die Durchführung des BEM sei zwar keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung. § 84 Abs. 2 SGB IX sei dennoch kein bloßer Programmsatz. Die Norm konkretisiere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Mit Hilfe des bEM könnten möglicherweise mildere Mittel als die Kündigung erkannt und entwickelt werden. Möglich sei, dass auch ein tatsächlich durchgeführtes bEM kein positives Ergebnis hätte erbringen können. In einem solchen Fall dürfe dem Arbeitgeber kein Nachteil daraus entstehen, dass er es unterlassen habe. Wolle sich der Arbeitgeber hierauf berufen, habe er die objektive Nutzlosigkeit des bEM darzulegen und ggf. zu beweisen. Dazu müsse er umfassend und detailliert vortragen, warum weder ein weiterer Einsatz auf dem bisherigen Arbeitsplatz, noch dessen leidensgerechte Anpassung oder Veränderung möglich gewesen seien und der Arbeitnehmer auch nicht auf einem anderen Arbeitsplatz bei geänderter Tätigkeit habe eingesetzt werden können, warum also ein bEM in keinem Fall dazu hätte beitragen können, neuerlichen Krankheitszeiten vorzubeugen und das Arbeitsverhältnis zu erhalten. Sei es dagegen denkbar, dass ein bEM ein positives Ergebnis erbringe, das gemeinsame Suchen nach Maßnahmen zum Abbau der Fehlzeiten also Erfolg gehabt hätte, müsse sich der Arbeitgeber regelmäßig vorhalten lassen, er habe „vorschnell“ gekündigt (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 -).
Die Durchführung eines BEM sei auf verschiedene Weisen möglich. Das bEM sei ein rechtlich regulierter verlaufs- und ergebnisoffener „Suchprozess“, der individuell angepasste Lösungen zur Vermeidung zukünftiger Arbeitsunfähigkeit ermitteln soll. Auch wenn es keine konkreten Verfahrensvorschriften gebe, ließen sich aus dem Gesetz gewisse Mindeststandards ableiten. Zu diesen gehöre es, die gesetzlich dafür vorgesehenen Stellen, Ämter und Personen zu beteiligen und zusammen mit ihnen eine an den Zielen des BEM orientierte Klärung ernsthaft zu versuchen. Ziel des BEM sei es festzustellen, aufgrund welcher gesundheitlichen Einschränkungen es zu den bisherigen Ausfallzeiten gekommen ist, und herauszufinden, ob Möglichkeiten bestehen, sie durch bestimmte Veränderungen künftig zu verringern, um so eine Kündigung zu vermeiden. Es sei Sache des Arbeitgebers, die Initiative zur Durchführung des BEM zu ergreifen. Bei der Durchführung müsse er eine bestehende betriebliche Interessenvertretung, das Einverständnis des Arbeitnehmers vorausgesetzt, hinzuziehen. Im Rahmen dieser gebotenen Initiative müsse der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor nach § 167 Abs. 2 Satz 3 SGB IX auf die Ziele des bEM sowie Art und Umfang der dabei erhobenen Daten hinweisen. Der Hinweis fordere eine Darstellung der Ziele, die inhaltlich über eine bloße Bezugnahme auf die Vorschrift des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX hinausgeht. Zu diesen Zielen gehöre die Klärung, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, erneuter Arbeitsunfähigkeit vorgebeugt und wie das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann. Dem Arbeitnehmer müsse verdeutlicht werden, dass es um die Grundlagen seiner Weiterbeschäftigung gehe und dazu ein ergebnisoffenes Verfahren durchgeführt werden soll, in das auch er Vorschläge einbringen könne. Daneben sei ein Hinweis zur Datenerhebung und Datenverwendung erforderlich, der klarstelle, dass nur solche Daten erhoben werden, deren Kenntnis erforderlich ist, um ein zielführendes, der Gesundung und Gesunderhaltung des Betroffenen dienendes BEM durchführen zu können. Dem Arbeitnehmer müsse mitgeteilt werden, welche Krankheitsdaten - als sensible Daten iSv. Art. 9 Abs. 1, 4 Nr. 15 DSGVO - erhoben und gespeichert und inwieweit und für welche Zwecke sie dem Arbeitgeber zugänglich gemacht werden. Nur bei entsprechender Unterrichtung könne vom Versuch der ordnungsgemäßen Durchführung eines BEM die Rede sein (BAG 20. November 2014 - 2 AZR 755/13 -).
Die Klärung von Möglichkeiten zur Beendigung gegenwärtiger und Vermeidung neuer Arbeitsunfähigkeiten sowie zum Erhalt des Arbeitsplatzes sei nur möglich, wenn die beteiligten Akteure im möglichen Umfang Informationen über die Ausgangssituation haben. Daher sei das Erfassen dieser Ausgangssituation denknotwendig Bestandteil eines bEM. Zu beachten sei dabei aber, dass berechtigte Interessen des Beschäftigten gegen eine umfassende Informationssammlung sprechen können. Nicht zuletzt, weil es in der Regel um besondere Kategorien personenbezogener Daten iSd. Art. 9 EU-DSGVO, insbesondere Gesundheitsdaten nach Art. 4 Nr. 15 EU-DSGVO gehe, gehöre zu den Pflichten des Arbeitgebers auch die Beachtung des Datenschutzes. Die Beachtung des Datenschutzes sei in § 167 Abs. 2 SGB IX zwar verklausuliert, aber dennoch ausdrücklich vorgeschrieben. Ihre Notwendigkeit ergebe sich zudem aus dem besonderen Spannungsfeld der in wesentlichen Teilen auch schon rechtlich geregelten Interessen, in dem das bEM notwendig angesiedelt ist. Dies seien insbesondere das Erkenntnisinteresse des Arbeitgebers an allen für die Leistungsfähigkeit des Beschäftigten relevanten Informationen und das Interesse des Beschäftigten am Erhalt seines Arbeitsplatzes auch bei gesundheitlicher Einschränkung. Auch ganz allgemein sei die Einhaltung datenschutzrechtlichen Anforderungen für eine vertrauensvolle und effektive Zusammenarbeit im Rahmen des bEM unerlässlich (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 29 und 30).
Bei der Organisation des Datenschutzes seien folgende Leitlinien einzuhalten. Der Arbeitgeber - und in Anlehnung an den Rechtsgedanken des § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB I jede andere Person, die Personalentscheidungen treffen kann - dürfe ohne ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen Zugang nur zu solchen Daten haben, die für den Nachweis der Erfüllung der Pflicht zum bEM erforderlich sind oder ohne die er seine Zustimmung zu geplanten Maßnahmen etc nicht erteilen kann. Diagnosen und ähnlich sensible Daten dürften dem Arbeitgeber ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung des Betroffenen nicht zugänglich sein (FRR/Ritz/Schian SGB IX § 167 Rn. 44a und 45).
Der Arbeitgeber habe die Voraussetzungen für eine ordnungsgemäße Unterrichtung über die Datenverwendung nicht erfüllt. Der Arbeitgeber habe versucht, eine Einwilligung nicht nur zur „Erhebung“ und „Nutzung“ (auch) von Gesundheitsdaten zu erlangen, auch zur „Bekanntmachung“ dieser Daten unter anderen gegenüber dem „Vorgesetzten“ und der „Standortleitung“. Die Einwilligung in die „Bekanntgabe“ von Gesundheitsdaten gegenüber dem „Vorgesetzten“ könne unter Umständen noch dahin ausgelegt werden, dass dies nur gelten solle, wenn der Vorgesetzte als Teilnehmer des betrieblichen Eingliederungsteams (BET) herangezogen wurde. Im beigefügten Antwortschreiben hätte der Arbeitnehmer eine solche Beteiligung des Vorgesetzten ankreuzen können. Für eine „Bekanntmachung“ jedenfalls aller offenbarter Gesundheitsdaten (insb. Diagnosen) gegenüber der Standortleitung bestehe dagegen kein nachvollziehbarer Grund. Hier reiche es aus, wenn der Arbeitgeber weiß, auf welche Einschränkungen er bei einer etwa gebotenen Umgestaltung von Arbeitsplätzen zu achten hat. Einer Kenntnis, auf welcher Diagnose diese Einschränkung beruhe, bedürfe er nicht. Es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass ein Arbeitnehmer auch dem nicht im BET beteiligten Standortleiter freiwillig seine Gesundheitsdaten überlassen möchte iSd. Art. 9 Abs. 2 a; 7 EU-DSGVO. Dann müsse dem Arbeitnehmer aber im besonderen Maß deutlich gemacht werden, dass dieser Teil der Einwilligung nur freiwillig ist, weil sie für die Zwecke der Durchführung des bEM nicht erforderlich ist, vergleiche Art. 7 Abs. 4 EU-DSGVO. Das sei vorliegend nicht der Fall.
Es könne nicht ausgeschlossen werden, dass bei einer ordnungsgemäßen Unterrichtung über das bEM der Arbeitnehmer an einem solchen teilgenommen hätte und im Rahmen des Verfahrens Möglichkeiten gefunden worden wären, seine Fehlzeiten zu reduzieren. Der Arbeitgeber habe nicht aufgezeigt, dass ein bEM vorliegend entbehrlich gewesen wäre.
Fazit
Das bEM konkretisiert den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des Kündigungsrechts, ist aber zunächst keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung einer Kündigung (vgl. BAG, Urteil vom 20. November 2014, 2 AZR 755/13). Den Arbeitgeber trifft eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast bezüglich der Verhältnismäßigkeit einer Kündigung. Behauptet der Arbeitnehmer, er könne auf einem anderen Arbeitsplatz leidensgerecht eingesetzt werden, obliegt es am Ende dem Arbeitgeber nachzuweisen, dass eine vom Arbeitnehmer behauptete Beschäftigungsmöglichkeit tatsächlich nicht vorliegt. Sofern ein bEM nicht durchgeführt wird, führt das nicht per se zur Unwirksamkeit einer ausgesprochenen Kündigung. Die Hürden der Darlegung- und Beweislast sind für den Arbeitgeber aber dann in der Regel so hoch, dass die Kündigung hieran scheitert. Der Arbeitnehmer muss im Rahmen eines Einladungsschreibens nicht nur über die Ziele des bEM aufgeklärt werden, sondern auch über Art und der Umfang der erhobenen und verwendeten Daten, insbesondere Gesundheitsdaten. Enthält das Einladungsschreiben Informationen, die gegen Datenschutzrecht verstoßen oder auch nur diesen Eindruck erwecken, gilt das Verfahren als nicht ordnungsgemäß eingeleitet.
Die Entscheidung gibt Anlass für den Hinweis, dass Arbeitnehmer seit einer im Jahr 2021 in Kraft getretenen Gesetzesänderung einen Anspruch darauf haben, eine Vertrauensperson ihrer Wahl (bspw. einen Anwalt) zum bEM-Gespräch hinzuzuziehen.
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