Nachwirkende Schutz- und Fürsorgepflichten aus ärztlichem Behandlungsvertrag

|| Medizinrecht

BGH Urteil vom 26.06.2018, Az.: VI ZR 285/17

Sachverhalt

Der Kläger stellte sich am 31.07.2098 mit Schmerzen im linken Bein und Fuß bei der beklagten Hausärztin vor. Diese stellte eine Überweisung zur fachärztlichen Weiterbehandlung aus. Am 07.10.2008 suchte der Kläger wegen der Schmerzen in der Kniekehle und im Kniegelenk notfallmäßig ein Krankenhaus auf. Das Krankenhaus übermittelte einen ersten Arztbrief an die Fachärztin. Es erfolgte eine Überweisung des Klägers zur stationären Behandlung in eine Klinik. Irrtümlicherweise übermittelte die Klinik den Arztbrief nicht an die Fachärztin, sondern an die Beklagte und lediglich nachrichtlich an die Fachärztin. Wenige Tage später wurde ein erneuter Arztbrief versandt, der ausschließlich und erkenntlich lediglich an die Beklagte adressiert war und die Information enthielt, dass bei dem Kläger ein bösartiger Tumor festgestellt worden sei verbunden mit der Bitte den Kläger in einem onkologischen Spezialzentrum vorzustellen. Eine Weiterleitung dieses Schreibens an den Kläger oder eine sonstige Information des Klägers durch die Beklagte erfolgte jedoch nicht.

Als sich der Kläger, der zuletzt im August 2008 bei der Beklagten vorstellig geworden war, am 17.05.2010 wegen einer Handverletzung dort vorstellte, kam das Gespräch auf die Bösartigkeit des entfernten Geschwulst. Der Kläger wurde in einem Universitätsklinikum weiterbehandelt. Dort wurde festgestellt, dass sich im Bereich der linken Kniekehle ein Rezidiv des Nervenscheidentumors gebildet hatte, welches weitere stationäre Aufenthalte und Operationen nach sich zogen.

Das Oberlandesgericht hatte die Klage auf Schadensersatz und Schmerzensgeld in zweiter Instanz abgewiesen und ausgeführt, dass vorliegend kein grober Behandlungsfehler gegeben sei. Es sei im alltäglichen Praxisablauf nachvollziehbar, dass die Weiterleitung dieses Arztbriefes unterlassen wurde. Es habe sich nicht aufgedrängt, dass die Beklagte als maßgebliche Behandlerin und einzige Adressatin fehlerhaft vom Krankenhaus ausgewählt worden sei. Bei einem lediglich einfachen Behandlungsfehler könne deshalb die Kausalität des Fehlers für den weiteren Verlauf der Erkrankung des Klägers nicht angenommen werden.

Entscheidung

Der BGH hat diese Entscheidung aufgehoben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das OLG zurückverwiesen. Der BGH führt aus, dass es auf die Umstände, dass Fehler im alltäglichen Ablauf passieren können, bei der Bewertung der Frage, ob ein Behandlungsfehler als grob zu bewerten sei, nicht ankäme. Dass Fehler vorkommen (können), sage nichts darüber aus, ob sie objektiv nicht mehr verständlich seien. Auch der Zeitpunkt des letzten Behandlungskontakts sei für die Frage, ob in der unterlassenen Information des Patienten über den Arztbrief mit einem derart bedrohlichen Befund wie dem vorliegenden ein grober Fehler liegt, nicht von Belang.

Der BGH führt weiter aus, dass der Patient einen Anspruch auf Unterrichtung über die im Rahmen einer ärztlichen Behandlung erhobenen Befunde und Prognosen habe. Wenn der behandelnde Arzt einen Arztbrief erhalte, in dem für die Weiterberatung und Weiterbehandlung des Patienten neue bedeutsame Informationen enthalten sind, die eine alsbaldige Vorstellung des Patienten bei einem Arzt unumgänglich machen, so hat er den Patienten (sogar dann) unter Mitteilung des neuen Sachverhaltes einzubestellen, wenn er ihm aus anderen Gründen die Wahrnehmung eines Arzttermins angeraten hatte. Dabei käme es nicht darauf an, ob außer dem behandelnden Arzt vielleicht auch andere Ärzte etwas versäumt haben. Im vorliegenden Fall sei die Verantwortung der Beklagten mit Überweisung an die Fachärztin zwar grundsätzlich auf diese und auf die weiterbehandelnden Kliniken übergegangen. Gleichwohl sei die Beklagte aus dem Behandlungsvertrag verpflichtet gewesen, dem Kläger die zur Kenntnis gelangten Informationen weiterzuleiten. Dies ergebe sich daraus, dass der zweite Arztbrief allein an die Beklagte gerichtet gewesen sei und eine unmittelbar an sie gerichtete Handlungsaufforderung („Bitte um Vorstellung…“) enthalten habe. Die Beklagte habe dem unschwer entnehmen können, dass die behandelnden Ärzte des Klinikums sie als weiterbehandelnde Ärztin ansahen. Auch wenn dies aus Sicht der Beklagten irrtümlich und fehlerhaft gewesen sei, habe sie das Schreiben nicht unbeachtet lassen dürfen und damit sehenden Auges eine Gefährdung des Klägers hinnehmen dürfen.

Der Arzt habe sicherzustellen, dass der Patient von Arztbriefen mit bedrohlichen Befunden Kenntnis erhält, auch wenn diese nach einem etwaigen Ende des Behandlungsvertrages bei dem Arzt eingehen. Den Arzt treffe eine aus dem Behandlungsvertrag nachwirkende Schutz- und Fürsorgepflicht.


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