Neue Grenzziehung zwischen Tötung auf Verlangen und Suizidhilfe

|| Medizinrecht

BGH Beschluss vom 28.06.2022, Az.: 6 StR 68/21

Es handelt sich um ein auf vielen Ebenen schwieriges Thema: Sowohl rechtsdogmatisch als auch emotional stellt die Abgrenzung zwischen einer Tötung auf Verlangen und einer Suizidhilfe Rechtsanwendende wie auch alle anderen in irgendeiner Weise mit der Thematik in Verbindung Stehende vor große Herausforderungen. In seinem Beschluss vom 28.06.2022 (6 StR 68/21) hat der Bundesgerichtshof (BGH) diese Differenzierung nun in einer Leitsatzentscheidung konkretisiert.

1. Theoretische Einführung

Die Tötung auf Verlangen ist strafbar gem. § 216 StGB. So heißt es im Gesetzestext: Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen. Indem die Norm deutlich macht, dass das Leben prinzipiell unantastbar ist und selbst für den Rechtsgutsträger, sofern es um den Eingriff eines Dritten geht, nicht disponibel ist, bringt sie den hohen Rang zum Ausdruck, den das Rechtsgut Leben im Wertgefüge des Grundgesetzes einnimmt. Gleichzeitig privilegiert § 216 StGB den Täter jedoch auch, der aufgrund eines ausdrücklichen und ernstlichen Verlangens des Getöteten zur Tötung bestimmt wurde.

Daneben ist die Suizidhilfe, also die Beihilfe zur Selbsttötung, grundsätzlich straflos. Dies deshalb, da die Strafbarkeit wegen der Straftaten gegen das Leben gemäß §§ 211 ff. StGB die Tötung eines anderen Menschen voraussetzt. Daraus folgt, dass derjenige, der sich selbst tötet, keine Straftat begeht. Damit ist grundsätzlich auch die Anstiftung oder die Beihilfe zu einer Selbsttötung straflos, da die hierfür einschlägigen Normen des StGB eine vorsätzliche und rechtswidrige Haupttat voraussetzen.

Nach herrschender Auffassung erfolgt die Abgrenzung der Tötung auf Verlangen von der Beihilfe zur Selbsttötung danach, wer das letztlich zum Tod führende Geschehen bis zum Schluss in den Händen hält. Der Sterbewillige, der den unmittelbar das Leben beendenden Akt beherrscht, begeht Suizid. Eine Mitwirkung hieran ist mithin straffrei. Begibt sich der Sterbewillige jedoch nach seinem Gesamtplan in die Hände eines anderen, um duldend von ihm den Tod entgegenzunehmen, so ist von einer Fremdtötung auszugehen.

2. Sachverhalt

Dem Beschluss des BGH lag ein Sachverhalt zu Grunde, in dem die Angeklagte ihren gesundheitlich jahrelang schwer geplagten Ehemann bei der Lebensbeendigung unterstützte.

Der Ehemann der Angeklagten litt unter einem chronischen Schmerzsyndrom, weswegen er seit mehr als 20 Jahren arbeitsunfähig und berentet war. Seitdem traten hinzu ein schmerzgeleitetes Psychosyndrom, Adipositas, Myalgie, Hypertonie, insulinpflichtiger Diabetes mellitus, ein zervikaler Bandscheibenschaden mit Radikulopathie, psychosomatische Schlafstörungen, ein Restless-Legs-Syndrom, eine mittelgradige depressive Episode und Arthrose in den Händen. Zudem hatte er sich einer Hüftoperation unterziehen müssen.

Die Angeklagte ist ausgebildete Krankenschwester. Sie hatte ihren Ehemann die gesamten Jahre über zu Hause gepflegt. Seine medizinische Versorgung hatte sie aufgrund seiner Ablehnung gegenüber Ärzten nahezu vollständig alleine übernommen. In diesem Rahmen drückte sie täglich die zahlreichen erforderlichen Tabletten aus den Blistern, da dies ihrem Mann aufgrund seiner Arthrose nicht möglich war. Zudem verabreichte sie ihm seine Insulinspritzen, deren Injektion er ebenfalls nicht alleine vornehmen konnte.

In den Jahren vor seinem Tod litt der Ehemann deutlich und erkennbar immer mehr unter seiner gesundheitlichen Situation. Er hatte immer öfter den Wunsch zu sterben erklärt. Zuletzt äußerte er nahezu wöchentlich, „gehen“ zu wollen. An der Inanspruchnahme eines Sterbehilfevereins hinderte ihn lediglich das seinerzeit geltende gesetzliche Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe in Deutschland. Am Tag der Tat sagte er zu der Angeklagten nach dem gemeinsamen Nachmittagskaffee: „Heute machen wir´s“.

Dementsprechend forderte der Ehemann die Angeklagte auf, sämtliche im Haus befindlichen Tabletten zu suchen. Er schrieb in ein Notizbuch, dass er unter zu großen Schmerzen leide, um weiterleben zu wollen und dass er seine Frau angewiesen habe, keine Hilfe zu holen und keine Rettungsmaßnahmen zu ergreifen. Auch vermerkte er, er hoffe, dass sein Tablettenvorrat ausreiche, um von seinen großen Schmerzen erlöst zu werden.

Die Angeklagte suchte sämtliche verfügbaren Tabletten zusammen (ca. zehn Tabletten Hydromorphon 25 mg akut und 15 Diazepamintabletten) und drückte diese der jahrelangen Praxis entsprechend aus den Blistern. Ihr Ehemann nahm die Tabletten daraufhin eigenständig zu sich.

Sodann forderte der Ehemann die Angeklagte auf, alle im Haus befindlichen Insulinspritzen zu holen. Die Angeklagte tat dies und verabreichte ihrem Ehemann entsprechend der üblichen Handhabung eine tödliche Dosis von sechs Spritzen. Im Anschluss hieran vergewisserte sich der Sterbewillige bei der Angeklagten, ob das auch wirklich alle vorrätigen Spritzen gewesen seien. Schließlich wolle er „nicht als Zombie“ zurückkehren.

Der Ehemann der Angeklagten starb an Unterzuckerung infolge des injizierten Insulins. Die Wirkstoffe der Tabletten hatten zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewirkt. Sie wären aber alleine zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls in der Lage gewesen, den Tod herbeizuführen.

Das Landgericht Stendal hatte die Angeklagte wegen Tötung auf Verlangen gem. § 216 StGB verurteilt. Dies wurde damit begründet, dass die Angeklagte ihrem Ehemann aktiv handelnd die tödlichen Insulinspritzen gesetzt habe. Ihr Ehemann wiederum sei bereits dazu entschlossen gewesen, ihre auf seinen Tod hinzielende Handlung duldend hinzunehmen und habe dies auch getan.

3. Die neue Grenzziehung des Bundesgerichtshofs

Die Beurteilung des Landgerichts entspricht der unter „1.“ skizzierten Abgrenzung der herrschenden Meinung.

In seinem Beschluss legte der BGH nun neue Maßstäbe für die Grenze zwischen der strafbaren Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zur Selbsttötung fest. Diese könne in Fällen wie dem vorliegenden nicht sinnvoll nach Maßgabe einer naturalistischen Unterscheidung zwischen aktivem und passivem Handeln vorgenommen werden. Geboten sei vielmehr eine normative (=wertende) Betrachtung.

So habe trotz aktiver Insulinverabreichung durch die Angeklagte der unbedingte Sterbewille des Ehemannes das Geschehen überlagert. Die Insulingabe sei lediglich Teil des einheitlichen, maßgeblich vom Ehemann selbstbestimmten Gesamtakts zur Lebensbeendigung gewesen. Sie hätte der Sicherstellung des Todeseintritts gedient, falls die Medikamenteneinnahme hierfür nicht ausgereicht hätte. Nach dem Plan des Ehemannes sei es letztlich dem Zufall überlassen gewesen, ob es das Insulin ist, das den Tod verursacht oder ob dieser bereits schon durch den Medikamentenmissbrauch herbeigeführt wird. Zudem sei dem Ehemann der Angeklagten nach der Insulingabe noch eine gewisse Zeit lang bei Bewusstsein geblieben, er habe jedoch eigenverantwortlich davon abgesehen, Gegenmaßnahmen einzuleiten.


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