Ärztliche Hauptpflichten können auch bis lange nach der eigentlichen Behandlung bestehen

|| Medizinrecht

Landgericht München II 04.05.2021 (Az.: 1 O 2667/19)

Das Landgericht München II hatte in seinem Urteil vom 04.05.2021 (Az.: 1 O 2667/19) über den Anspruch auf Schmerzensgeld einer Patientin zu entscheiden, die unter anderem vorwerfbares Verhalten nach dem Zutagetreten eines Arzthaftungsfehlers als schmerzensgelderhöhend anführte.

Die Patientin hatte im Haus der Beklagten zu 2) vom Beklagten zu 1) nach anästhesiologischer Aufklärung eine endoskopische Dekompression im Bereich der LWS durchführen lassen. Der Beklagte zu 1) ist Facharzt für Anästhesie. Vor dem geplanten Eingriff injizierte eine im Haus der Beklagten zu 2) angestellte Anästhesieschwester der Klägerin ein Medikament.

Die Klägerin trug vor, dass sie sich in Folge der Injektion nicht mehr habe verständigen können und gelähmt gewesen sei. Darüber hinaus habe sie nicht mehr atmen können und das Gefühl gehabt, zu ersticken. Infolge dieses Nahtoderlebnisses habe sie fortan unter psychischen Beschwerden gelitten, die sogar zu einem Suizidversuch geführt hätten.

Die Beklagten stritten in der Folge jegliche Verantwortlichkeit für das traumatische Erlebnis der Klägerin ab und erklärten sich dieses mit einem generalisierten Krampfanfall. Selbst als im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens ein unabhängiger Sachverständiger feststellte, dass sich die körperliche Reaktion mit einem per Injektion versehentlich fälschlicherweise verabreichten Medikament erklären lässt, ließen die Beklagten keinerlei Fehlerbewusstsein erkennen.

Das Gericht sah nach der Beweisaufnahme eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach als erwiesen an. Den Ausführungen der Klägerin folgend stellte es fest, dass sich die ärztlichen Hauptpflichten im Falle eines Behandlungsfehlers bis in das gerichtliche Verfahren hinein erstrecken können. Zu diesen gehöre es, einem Patienten Ursachen, Verlauf und Folgen eines Zwischenfalls zu erläutern und ihm Hilfen bei der Bewältigung anzubieten, soweit der Patient hierauf angewiesen ist, um das Erlebte angemessen verarbeiten zu können. Dies obliege der Behandlerseite bereits ab dem Moment des Schadenseintritts, aber erforderlichenfalls auch noch in der Folgezeit, gegebenenfalls sogar noch nach Erhebung einer Arzthaftungsklage.

Diesen Anforderungen ist nach Auffassung des Gerichts das Verhalten der Beklagten nicht gerecht geworden.

Konkret hätte der Beklagte zu 1) nach dem Ereignis ausführlich mit der Klägerin darüber sprechen müssen. Durch das Gespräch hätte er herausfinden können, was den Zwischenfall ausgelöst hat und er hätte die Patientin hinsichtlich des Auftretens einer posttraumatischen Belastungsreaktion und zu deren Behandlungsformen informieren können und müssen. Darüber hinaus hatten die Beklagten bei Entlassung der Klägerin lediglich schriftlich die Empfehlung ausgesprochen, einen Neurologen zu konsultieren. Sie hätten jedoch die Verpflichtung gehabt, die Ursache des Zwischenfalls zu eruieren und gemeinsam mit der Klägerin nach Wegen zu suchen, ihn in einer Weise aufzuarbeiten, mit der die Klägerin gut leben kann. Im anschließenden Arzthaftungsprozess wäre dann ein Signal der Beklagten an die Klägerin notwendig gewesen, dass ihre Behandler sie in ihrer Not als Mensch sehen und die Verantwortung für das Geschehene übernehmen; dies spätestens ab Feststellung des Arzthaftungsfehlers durch das Sachverständigengutachten.

Wären die Beklagten den im Urteil beschriebenen Verpflichtungen nachgekommen, so hätten sich die psychischen Beeinträchtigungen nach den Feststellungen des Gerichts als weitaus weniger gravierend entwickelt.

In lesenswerter Weise stellt das Urteil mithin klar, dass die ärztliche Behandlungsverantwortung weit über die eigentliche Behandlung heraus bestehen kann.


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