Beginn der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist – Zurechnung des Wissens von nicht kündigungsberechtigten Personen

|| Arbeitsrecht

LAG Baden-Württemberg, Urteil vom 03.11.2021 - 10 Sa 7/21

Einleitung

Die außerordentliche Kündigung nach § 626 Abs. 1 BGB kann nach § 626 Abs. 2 S. 1 i.V.m. S.2 nur innerhalb von zwei Wochen nach Kenntnis des Kündigungsberechtigten vom Kündigungsgrund erfolgen. Dazu zählen zunächst der Arbeitgeber selbst, also etwa der Inhaber einer Einzelfirma und bei juristischen Personen deren Organe (Geschäftsführer, Vorstand) sowie die Arbeitnehmer, denen der Arbeitgeber das Recht zur (außerordentlichen) Kündigung übertragen hat, etwa Prokuristen oder Mitarbeiter mit Handlungsvollmacht (§ 54 HGB) und leitende Angestellte mit Kündigungsbefugnis. Das Wissen dieser zur Kündigung befugten rechtsgeschäftlichen oder gesetzlichen Vertreter muss sich der Kündigungsberechtigte nach § 166 Abs. 1 BGB zurechnen lassen. Eigene Kenntnisse bleiben auch im Fall der Bevollmächtigung eines Vertreters nicht außer Betracht (§ 166 Abs. 2 S. 1 BGB). Eine nach Ablauf der Zweiwochenfrist ausgesprochene außerordentliche Kündigung ist unwirksam.

Sachverhalt

Der Vertriebsleiter einer Firma war einer von bis zu 89 betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, gegen die im Juli 2018 umfangreiche Compliance-Untersuchungen eingeleitet wurden. Diese Untersuchungen wurden geleitet vom Leiter des „Legal & Compliance Departments“. Im Oktober 2018 wurde zudem eine externe Kanzlei mit weitergehenden Untersuchungen beauftragt. Im Juni 2019 wurden die Untersuchungen unterbrochen und das Compliance-Team verfasste einen Zwischenbericht. Die Kanzlei fertigte bis zum 16.9.2019 ebenfalls einen solchen Bericht. Beide Berichte wurden der Geschäftsführung am 16.9.2019 übergeben. Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 27.9.2019 außerordentlich, der Kläger erhob Kündigungsschutzklage.

Entscheidung

Das LAG hat entschieden, dass die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB abgelaufen war. Grundsätzlich komme es zwar für den Beginn der zweiwöchigen Frist auf die Kenntnis des kündigungsberechtigten Geschäftsführers der Beklagten an; allerdings müsse sich dieser die Kenntnis des Leiters des Compliance-Teams zurechnen lassen. Dieser habe spätestens im Juni 2019, als er den Zwischenbericht verfasste, hinreichend gesicherte Kenntnis von möglichen Kündigungsgründen gehabt. Der Geschäftsführer habe die Pflicht gehabt, sich regelmäßig über den Stand der Ermittlungen berichten zu lassen, um zeitnah über mögliche arbeitsrechtliche Konsequenzen entscheiden zu können. Dieser habe jedoch die Ermittlungen vollständig aus der Hand gegeben, ohne sich regelmäßig über relevante Zwischenstände informieren zu lassen. Aufgrund dieses Organisationsverschuldens müsse er sich zurechnen lassen, dass der Leiter des Compliance-Teams ihn erst im September 2019, mithin verspätet informierte. Zudem könne auch die Tatsache, dass gegen zuletzt noch 17 verdächtige Mitarbeiter umfangreiche Ermittlungen geführt wurden, nicht dazu führen, dass die Kündigungserklärungsfrist „grenzenlos verschoben“ werde. Die jeweilige Erklärungsfrist beginne individuell für jeden betroffenen Kollegen ab hinreichender Kenntnis von möglichen Kündigungsgründen zu laufen, auch wenn ggf. bezüglich anderer Kolleginnen und Kollegen noch ermittelt werde.

Fazit

Die zweiwöchige Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB für eine außerordentliche Kündigung gegenüber einem Arbeitnehmer beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte eine zuverlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er dieses konkrete Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht
Die Kenntnis einer nicht kündigungsberechtigten Person muss sich der Arbeitgeber für den Fristbeginn zurechnen lassen, wenn diese Person eine herausgehobene Position und Funktion im Betrieb innehat sowie tatsächlich und rechtlich in der Lage ist, den Sachverhalt so umfassend zu klären, dass mit ihrem Bericht der Kündigungsberechtigte ohne weitere Nachforschungen seine (Kündigungs-)Entscheidung abgewogen treffen kann, und wenn die Verspätung, mit der er in eigener Person Kenntnis erlangt hat, auf einer unsachgemäßen Organisation des Betriebs beruht

Bei Compliance-Untersuchungen muss sich aber die kündigungsberechtigte Person über den Stand der Ermittlungen in Kenntnis setzen lassen. Wird nicht durch regelmäßige Kontrolle und entsprechende Auftragserteilung sichergestellt, dass die Ermittelnden Informationen rechtzeitig weiterleiten, kommt die Zurechnung des Wissens der Person, die in herausgehobener Position und Funktion im Betrieb tätig und mit der Aufklärung des Sachverhalts betraut war, in Betracht (hier: Leiter „Legal & Compliance“).


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