Individualrechtliche Vereinbarungen können nicht durch eine Betriebsvereinbarung zu Lasten des Arbeitnehmers abgeändert werden, auch wenn sie nach tariflichen Grundsätzen vereinbart wurden

|| Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 11.04.2018 Az.: 4 AZR 119/17

Einleitung

Gem. § 77 Abs. 4 BetrVG wirken Betriebsvereinbarungen unmittelbar und zwingend für das Arbeitsverhältnis, so dass es keiner Umsetzung zu ihrer Wirksamkeit bedarf. Dieser Grundsatz wird durch das Günstigkeitsprinzip modifiziert. Dieses Prinzip schützt den Arbeitnehmer vor einer Verschlechterung seiner arbeitsvertraglichen Rechtsposition durch eine Betriebsvereinbarung. Individualvertragliche Vereinbarungen haben gegenüber einer Betriebsvereinbarung grundsätzlich Vorrang.

Anders liegen die Dinge, wenn im Arbeitsvertrag ausdrücklich festgelegt ist, dass spätere Betriebsvereinbarungen vorrangig sein sollen („Betriebsvereinbarungsoffenheit“). Fehlen solche Regelungen, kann nach der Rechtsprechung des 1. Senats des BAG allerdings stillschweigend („konkludent“) in die Arbeitsverträge hineingelesen werden, dass zukünftige Betriebsvereinbarungen auch arbeitsvertragliche Regelungen im Einzelfall verschlechtern können, und zwar bei „Allgemeinen Arbeitsbedingungen mit kollektivem Bezug“ (BAG, 05.03.2013 – NZA 2013, 916). Solche „Allgemeinen Arbeitsbedingungen“ sind z.B. Anordnungen von Überstunden im Rahmen von Arbeitszeitkonten (LAG Hamm, Urteil vom 22.05.2013 – 4 Sa 1232/12).

Sachverhalt

Ein Masseur in einem Senioren- und Pflegezentrum hatte im Dezember 1992 anlässlich einer Arbeitszeitreduzierung mit seinem Arbeitgeber vertraglich eine monatliche Vergütung in der Gruppe BAT Vc/3 in Höhe von DM 2.527,80 brutto vereinbart.

Im Februar 1993 schlossen Arbeitgeber und Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung, nach der „analog die für die Angestellten des Bundes und der Länder vereinbarten Bestimmungen des Lohn- und Vergütungstarifvertrages – BAT vom 11. Januar 1961" gelten sollte. Nach der Betriebsvereinbarung war der Verweis auf den Tarifvertrag also nicht dynamisch, sondern statisch auf den konkret genannten Tarifvertrag bezogen. Lohn- und Gehaltssteigerungen waren aufgrund dieser Vereinbarung also nicht automatisch zu übernehmen.

Der Masseur meint, ihm stehe wegen der arbeitsvertraglichen Bezugnahme eine Vergütung nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst in der für die kommunalen Arbeitgeber geltenden Fassung (TVöD/VKA) bzw. dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst der Länder (TV-L) zu, so dass er Anspruch auf die automatischen Entgelterhöhungen hat. Der Arbeitgeber ist anderer Auffassung und meint, dass keine dynamische Bezugnahme auf den Tarifvertrag vorliege. In den Vorinstanzen unterlag der Masseur. Vor dem BAG war er erfolgreich.

Entscheidung

Der Masseur hat Anspruch auf Vergütung nach der jeweiligen Entgelttabelle des TVöD/VKA. Der Arbeitgeber habe mit ihm wirksam die Geltung des BAT und nachfolgend des TVöD/VKA arbeitsvertraglich vereinbart. Die im Jahr 1993 geschlossene Betriebsvereinbarung ändere daran nichts, denn die arbeitsvertragliche Vergütungsabrede mit dem klagenden Masseur konnte nicht durch eine kollektivrechtliche Regelung abgeändert werden. Die Individualvereinbarung sei als solche auch nicht der AGB-Kontrolle unterworfen, weil es sich bei der Vereinbarung der Vergütung nicht um eine allgemeine Geschäftsbedingung, sondern um eine individuell vereinbarte Regelung der Hauptleistungspflicht handelte. Die vom Landesarbeitsgericht aufgeworfene Frage der - generellen - Betriebsvereinbarungsoffenheit von Allgemeinen Geschäftsbedingungen in Arbeitsverträgen bedurfte deshalb keiner Entscheidung.

Fazit

Es bleibt abzuwarten, ob auch der 1. Senat mit diesem Argument zu überzeugen ist. Er ist in seiner Entscheidung vom 5. März 2013, 1 AZR 417/1 der Auffassung, dass arbeitsvertragliche allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) „betriebsvereinbarungsoffen“ seien, falls es sich um Regelungen mit kollektivrechtlichen Bezug handelt. Der kollektivrechtliche Bezug eines Lohn- und Gehaltstarifvertrages ist offensichtlich. Das Argument der mangelnden Kontrollfähigkeit von AGB Regelungen, die die Hauptleistungspflicht betreffen, ist insoweit keineswegs zwingend.


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