Eine Kündigung, zu der die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung nach der Antragstellung an das Integrationsamt durchgeführt wurde, ist unwirksam

|| Arbeitsrecht

Arbeitsgericht Hagen, Urteil vom 6. März 2018, Az.: 5 Ca 1902/17

Einleitung

Seit dem 30. Dezember 2016 ist jede Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung unwirksam. Von großer praktischer Bedeutung für die Durchführung des Kündigungsverfahrens im Betrieb ist die Frage, ob die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung vor dem Zustimmungsantrag beim Integrationsamt erfolgen muss oder ob es genügt, wenn sie zumindest vor Ausspruch der Kündigung beteiligt wird.

Sachverhalt

Eine kaufmännische Angestellte und mit einem GdB von 50 war im Verkauf bei ihrem Arbeitgeber beschäftigt. Mit Wirkung zum 1. August 2017 wollte der Arbeitgeber das ERP-System SAP einführen. Das System erfordert neue Geschäftsprozesse und diese wiederum eine neue Aufbauorganisation, sodass der Arbeitgeber mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich und Sozialplan abschloss. Wie im Interessenausgleich und Sozialplan vorgesehen, wurde der kaufmännischen Angestellten eine Ergänzungsvereinbarung zum Arbeitsvertrag über ihre Versetzung in die Abteilung „Auftragszentrum/Auftragssteuerung“ ab dem 1. August 2017 angeboten. Dieses Angebot lehnte die Angestellte ab. Daraufhin beantragte der Arbeitgeber mit Schreiben vom 27. Juni 2017 beim zuständigen Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Änderungskündigung der Klägerin aus betriebsbedingten Gründen. Mit Schreiben vom 29. Juni 2017 informierte der Arbeitgeber den Betriebsrat über die beabsichtigte Änderungskündigung und bat um schriftliche Stellungnahme innerhalb der Wochenfrist. Ebenfalls am 29. Juni 2017 wurde dem stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden ein inhaltlich identisches Schreiben zur Weitergabe an die Schwerbehindertenvertretung überreicht. Das Integrationsamt erteilte mit Bescheid vom 22. September 2017 die Zustimmung zur Änderungskündigung mit der Maßgabe, dass die Angestellte in der Abteilung „Auftragssteuerung“ mit den im Antrag beschriebenen Aufgaben bei ansonsten unveränderten Arbeitsbedingungen weiterbeschäftigt wird. Daraufhin sprach der Arbeitgeber am 16. Oktober 2017 die ordentliche Änderungskündigung mit Wirkung zum 31. Dezember 2017 aus. Die Angestellte nahm das Änderungsangebot unter dem Vorbehalt an, dass dieses nicht sozial ungerechtfertigt ist, an und erhob am 3. November 2017 Klage beim zuständigen Arbeitsgericht Hagen.

Entscheidung

Nach Auffassung des Arbeitsgerichts Hagen war die Änderungskündigung unwirksam, weil die Schwerbehindertenvertretung nicht gemäß § 95 Abs. 2 Satz3 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 gültigen Fassung (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) angehört worden war.
Nach dieser Vorschrift habe der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung in allen Angelegenheiten, die einen einzelnen oder die schwerbehinderten Menschen als Gruppe berühren, unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor einer Entscheidung anzuhören. Seit dem 30. Dezember 2016 sei als zusätzliches Wirksamkeitserfordernis für die Kündigung schwerbehinderter und gleichgestellter Menschen die Anhörung der Schwerbehindertenvertretung in § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) statuiert worden, wonach die Kündigung eines schwerbehinderten oder gleichgestellten Menschen, die der Arbeitgeber ohne eine Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nach Satz 1 ausspricht, unwirksam ist.
Die Unwirksamkeitsfolge der Kündigung trete auch bei einer fehlerhaften Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung ein, da in diesem Fall ebenfalls keine Beteiligung nach §95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. vorliege.
Die Pflicht zur Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung bestehe auch unabhängig davon, dass das Integrationsamt nach § 87 Abs. 2 SGB IX a.F. (jetzt: § 170 Abs. 2 SGB IX) eine Stellungnahme der Schwerbehindertenvertretung einzuholen habe, da eine Stellungnahme die Anhörung im behördlichen Zustimmungsverfahren nicht ersetze.
Der Arbeitgeber habe die Schwerbehindertenvertretung nicht ordnungsgemäß im Sinne von § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) beteiligt. Denn der Arbeitgeber habe zuerst mit Schreiben vom 27. Juni 2017 beim Integrationsamt die Zustimmung zur beabsichtigten Änderungskündigung beantragt und erst danach mit Schreiben vom 29. Juni 2017 die Schwerbehindertenvertretung angehört sowie um Stellungnahme gebeten. Nach § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) müsse die Unterrichtung aber „unverzüglich und umfassend“ erfolgen. Unverzüglich bedeute nach § 121 Abs. 1 BGB, dass der Arbeitgeber die Schwerbehindertenvertretung ohne schuldhaftes Zögern anhören müsse, sobald er seinen Kündigungswillen gebildet habe. Die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung müsse daher am Beginn der vom Arbeitgeber zu treffenden Maßnahmen stehen. Erst danach dürfe die Zustimmung des Integrationsamts beantragt werden. Dies ergebe sich unmittelbar aus dem Wortlaut des § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) und wird durch dessen Zweck, der Schwerbehindertenvertretung eine Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers zu ermöglichen, untermauert. Ist nämlich der Antrag auf Zustimmung schon gestellt, hat der Arbeitgeber seine Willensbildung bereits abgeschlossen und seinen Willen nach außen erkennbar manifestiert. In diesem Fall kann die Schwerbehindertenvertretung nicht mehr an der Willensbildung mitwirken, sondern nur noch darauf hinwirken, dass der Arbeitgeber seine bereits getroffene Entscheidung revidiert. Anders als § 102 Abs. 1 Satz 1 BetrVG, der lediglich eine Anhörung „vor jeder Kündigung“ verlangt, stellt § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 1 SGB IX) also auf einen früheren Zeitpunkt ab.
Schließlich führte das Arbeitsgericht Hagen aus, dass auch die nachträgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht zu einer Heilung der zuerst unterbliebenen bzw. fehlerhaften Beteiligung führt. Denn wäre eine nachträgliche Beteiligung im Rahmen des § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt: § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) möglich, bliebe diese Neuerung weitestgehend ohne Folgen. Hierdurch sollten aber gerade die Rechte der Schwerbehindertenvertretung gestärkt und deren Beteiligung gesichert werden. Zudem nehme § 95 Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. (jetzt § 178 Abs. 2 Satz 3 SGB IX) nur auf Satz 1 Bezug und nicht auf den eine nachträgliche Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung regelnden § 95 Abs. 2 Satz 2 SGB IX a.F. (jetzt § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX). Jedenfalls würde der Zweck des Unterrichtungs- und Anhörungsrechts, der Schwerbehinderten-vertretung eine Mitwirkung an der Willensbildung des Arbeitgebers zu ermöglichen, bei einer nachträglichen Beteiligung konterkariert. Die Anhörung könne daher nicht nachgeholt werden. Wenn die Kündigungsentscheidung ohne Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung getroffen und der Zustimmungsantrag bereits gestellt wurde, bliebe dem Arbeitgeber nur die Möglichkeit, den Antrag zurückzunehmen und nach ordnungsgemäßer Unterrichtung und Anhörung der Schwerbehindertenvertretung einen neuen Antrag zu stellen.

Fazit

Die Unverzüglichkeit fordert vom Arbeitgeber, die Schwerbehindertenvertretung ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 Abs. 1 BGB) anzuhören, sobald er seinen Kündigungswillen gebildet hat. Es muss daher am Beginn der vom AG zu treffenden Maßnahmen stehen. Die Anhörung des Betriebsrats ( § 102 BetrVG) kann zeitgleich erfolgen, darf derjenigen nach § 178 Abs. 2 SGB IX aber nicht vorgehen. Bei einer beabsichtigten außerordentlichen Kündigung muss die Anhörung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB eingeleitet werden; die Kündigung darf auch nach Ablauf dieser Frist erfolgen, wenn zuvor alle weiteren Schritte unverzüglich eingeleitet worden waren.


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