Mitbestimmung bei der Einführung Elektronischer Zeiterfassung

|| Arbeitsrecht

LAG Hamm, Beschluss vom 27.7.2021 – 7 TaBV 79/20

Einleitung
Der EuGH hat mit Urteil vom 14.05.2019 (C-55/18, NZA 2019, 683 – CCOO) bekanntlich entschieden, dass die Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Beschäftigten geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Nach bisher ganz herrschender Meinung eröffnet § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ungeachtet des Umstands, dass eine Zeiterfassung häufig digitalisiert vorgenommen werden wird dem Betriebsrat kein Initiativrecht, mit dem er bestimmte Überwachungsmaßnahmen einfordern könnte (Fitting, BetrVG, 29. Aufl. 2018, § 87 Rn. 251).

Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG, das es dem Betriebsrat gestattet, vom Arbeitgeber Regelungen über den Gesundheitsschutz zu verlangen, setzt voraus, dass der Arbeitgeber gerade aus den Gründen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes ein Arbeitszeiterfassungssystem einsetzen müsste. Dazu müssen konkrete Gefährdungen feststehen oder im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung (§ 3 ArbStättV iVm § 5 ArbSchG) festzustellen sein. Alleine die Besorgnis, dass Beschäftigte ohne entsprechende Aufzeichnungen möglicherweise gesetzliche Höchstarbeitszeiten überschreiten könnten, reicht nach bisher herrschender Meinung nicht aus, um dem Arbeitgeber eine Dokumentationspflicht aufzuerlegen. Das fehlende Initiativrecht des Betriebsrates wird auch nicht durch CCOO überspielt, da dem EuGH keine Kompetenz zur Konkretisierung des Mitbestimmungsrechts der Mitgliedstaaten zusteht.

Allerdings kann der Betriebsrat vom Arbeitgeber verlangen, über Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit informiert zu werden, damit er die Einhaltung der in § 5 ArbZG vorgeschriebenen Ruhezeit überprüfen kann. Diese Auskünfte hat der Arbeitgeber auch dann zu erteilen, wenn er „Vertrauensarbeitszeit” gewährt und deshalb die Arbeitszeiten der Beschäftigten eigentlich nicht erfassen und nicht zur Kenntnis nehmen will. Der Arbeitgeber muss seinen Betrieb so organisieren, dass er die Einhaltung der gesetzlichen Höchstarbeitszeitgrenzen gewährleisten kann.

Sachverhalt
Die Betriebsparteien streiten vor dem Hintergrund eines ausgesetzten Einigungsstellenverfahrens um die Frage des Initiativrechts des Betriebsrats bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung. Zuvor entschlossen sich die Arbeitgeberinnen des gemeinsamen Betriebs, auf eine elektronische Zeiterfassung zu verzichten. Die notwendige „Hardware“ in Form von Lesegeräten war von den Arbeitgeberinnen bereits angeschafft aber die Nutzung und Pflege des Systems durch Einbindung eines Dienstleisters nicht beauftragt worden. In der gerichtlich eingesetzten Einigungsstelle wurde die Zuständigkeit unter Hinweis darauf gerügt, dass nach dem Beschluss des BAG vom 28.11.1989 (NZA 1990, 406) bei Einführung einer technischen Einrichtung i. S. d. § 87 I Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht des Betriebsrates nicht bestehe. Die Einigungsstelle beschloss die Aussetzung bis zur Prüfung ihrer Zuständigkeit im Rahmen eines Beschlussverfahrens.

Entscheidung
Das LAG änderte den abweisenden Beschluss des ArbG ab und stellte fest, dass der Betriebsrat hinsichtlich der initiativen Einführung einer elektronischen Zeiterfassung im Betrieb ein Mitbestimmungsrecht gem. § 87 I Nr. 6 BetrVG hat. Es ließ die Rechtsbeschwerde aufgrund der Divergenz zum Beschluss des BAG zu (anhängig unter 1 ABR 22/21).

Ausgangspunkt für die Annahme eines Initiativrechtes sei zunächst der Wortlaut des Gesetzes in § 87 Abs. 1 BetrVG „mitzubestimmen“, ergänzt um die Eingangsformulierung des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG „Einführung“. Mitbestimmung im Wortsinn beschreibe das Recht auf Mitgestaltung im Sinne gleichwertiger Verhandlungspartner. Diese gesetzliche Systematik werde nicht zuletzt durch den Konfliktregelungsmechanismus über das Einigungsstellenverfahren gemäß § § 87 Abs. 2 BetrVG festgeschrieben. Die Ausübung der Mitbestimmung als „Vetorecht“, wie es in § 99 Abs. 2 und 3 BetrVG für die personelle Einzelmaßnahme beschrieben sei, komme nicht in Betracht. Daher entspreche es der übereinstimmenden Auffassung in Rspr. und Literatur, dass i. S. e. Mitgestaltungsrechtes grds. auch dem Betriebsrat die Initiative zukommen könne, in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten Verhandlungen aufzunehmen und zu verlangen. Dem folgend habe das BAG zutreffend im Beschluss vom 27.1.2004 (BeckRS 2004, 40642) unter Rn. 28 ausdrücklich festgehalten, dass die Mitbestimmung bei der Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung ausdrücklich auch das „ob“ der Anschaffung umfasse, ohne allerdings auf den Beschluss vom 18.11.1989 (a. a. O.) zurückzugreifen. Das LAG verkannte nicht, dass das BAG ein Initiativrecht des Betriebsrates im Beschluss vom 28.11.1989 verneint hatte. Der Rückgriff auf den Sinn und Zweck des Mitbestimmungsrechtes zur Eingrenzung des Wortlautes erfordere die Auslegung mittels teleologischer Interpretation als Ermittlung des Gesetzeszweckes; die teleologische Reduktion sei richterliche Rechtsfortbildung. Die Auslegung von Gesetzen und richterliche Rechtsfortbildung dürften sich von dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers – namentlich von der gesetzgeberischen Grundentscheidung – nicht lösen. Der erkennbare Wille des Gesetzgebers im Bereich der Mitbestimmung des § 87 I BetrVG sei im Gesetzgebungsverfahren dokumentiert. Der Gesetzgeber habe bei der Schaffung des BetrVG bei der Mitbestimmung in sozialen Angelegenheiten bewusst nicht zwischen Mitbestimmungsrechten mit und ohne Initiativrecht unterschieden.

Praxishinweis
Der Beschluss des LAG billigt dem Betriebsrat bei der Mitbestimmung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht zu und beschränkt die unternehmerische Entscheidungsfreiheit im Hinblick auf die kostenrelevante Anschaffung und Unterhaltung überwachungsbestimmter oder -geeigneter Systeme. Mit Spannung darf erwartet werden, ob das BAG von der einschränkenden Auslegung abrückt und die Berücksichtigung unternehmerischer und sozialer Belange nach § 76 V 3 BetrVG ausreichen lässt.

In den Fällen, in denen der Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines Systems für die Erfassung von Arbeitszeiten auch im Rahmen der Vertrauensarbeitszeit geltend macht, kann nach dieser Entscheidung jedenfalls nicht von einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle ausgegangen werden. Wie in dem hier vorgestellten Fall, wird die Einigungsstelle das Verfahren aussetzen, bis das BAG über das Initiativrecht entschieden hat.


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