Stichtagsklausel bei tarifvertraglicher Sonderzuwendung

|| Arbeitsrecht

BAG, Urteil vom 27.6.2018 – 10 AZR 290/17

Der Anspruch auf eine jährliche Sonderzahlung kann in Tarifverträgen vom Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem bestimmten Stichtag außerhalb des Bezugszeitraums im Folgejahr abhängig gemacht werden

Einleitung

Für Betriebsvereinbarungen hat das BAG entschieden, dass entstandene Ansprüche auf Arbeitsentgelt für eine bereits erbrachte Arbeitsleistung von den Betriebsparteien nicht unter die auflösende Bedingung des Bestehens eines ungekündigten Arbeitsverhältnisses zu einem Stichtag nach Ablauf des Leistungszeitraums gestellt werden können (BAG, Urteil vom 12 April 2011 - Az. 1 AZR 412 / 09). Eine solche Regelung schränke die durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Arbeitnehmers übermäßig ein und halte der gebotenen Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht stand (BAG aaO Rn. 29). Die Vorenthaltung einer bereits verdienten Arbeitsvergütung sei stets ein unangemessenes Mittel, die selbstbestimmte Arbeitsplatzaufgabe zu verzögern oder zu verhindern. Mit ihr seien Belastungen für den Arbeitnehmer verbunden, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen eines Arbeitgebers nicht zu rechtfertigen seien (BAG aaO Rn. 33).
Die gleiche Rechtsfolge - Unwirksamkeit einer derartigen Regelung - hat das Bundesarbeitsgericht in Allgemeinen Geschäftsbedingungen angenommen. Eine Sonderzahlung, die jedenfalls auch Vergütung für bereits erbrachte Arbeitsleistung darstelle, könne nicht vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt außerhalb des Bezugszeitraumes, in dem die Arbeitsleistung erbracht worden sei, abhängig gemacht werden. Eine derartige Stichtagsklausel stehe im Widerspruch zum Grundgedanken des § 611 Abs. 1 BGB, indem sie dem Arbeitnehmer bereits erarbeiteten Lohn entziehe. Sie verkürze außerdem in nicht zu rechtfertigender Weise die nach Art. 12 Abs. 1 GG geschützte Berufsfreiheit des Arbeitnehmers, weil sie die Ausübung seines Kündigungsrechts unzulässig erschwere (BAG 13. November 2013 – Az.: 10 AZR 848).
Das BAG hat jetzt entschieden, dass eine Stichtagsregelung in einem Tarifvertrag jedenfalls bei einer Bindung des Arbeitnehmers von nicht mehr als drei Monaten und einer Sonderzahlung von nicht mehr als einem Monatsentgelt noch als angemessen angesehen werden könne.

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Rückzahlung einer tarifvertraglichen Sonderzuwendung. Der Arbeitnehmer war Busfahrer und seit 1995 bei der Klägerin beschäftigt.
Basis der arbeitsvertraglichen Beziehungen war eine von beiden Seiten unterzeichnete Einstellungsvereinbarung vom 30. August 1995. Danach gelten für das Arbeitsverhältnis „…die für die SWEG geltenden Tarifverträge, Betriebsvereinbarungen und die Arbeitsordnung in ihrer jeweiligen Fassung…“.
Der aufgrund dieser Individualvereinbarung in Bezug genommene Tarifvertrag sah einen Anspruch auf eine bis zum 1.12. zu zahlende Sonderzuwendung vor. Die Sonderzuwendung sollte auch der Vergütung für geleistete Arbeit dienen und war vom Arbeitnehmer zurückzuzahlen, wenn er in der Zeit bis zum 31.03. des Folgejahres auf eigenen Wunsch oder aus eigenem Verschulden aus dem Beschäftigungsverhältnis ausscheidet. Im Oktober 2015 kündigte der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis zum Januar 2016. Der Arbeitgeber zahlte die Sonderzuwendung in Höhe eines Monatsgehalts im November 2015 an den Busfahrer aus. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses verlangte er die Sonderzuwendung aber aufgrund der tarifvertraglichen Regelung zurück. Der Arbeitnehmer verweigerte die Rückzahlung, weil die Tarifvorschrift unwirksam sei. Sowohl das ArbG als auch das LAG haben der Klage auf Rückzahlung stattgegeben.

Entscheidung

Die Revision des Beklagten hatte keinen Erfolg.
Nach Ansicht des BAG wäre eine Rückzahlungsregelung unwirksam, wenn sie als Allgemeine Geschäftsbedingung einer Klauselkontrolle § 307 Abs. 1 BGB zu unterziehen wäre. Tarifverträge, die arbeitsvertraglich in ihrer Gesamtheit einbezogen wurden, unterlägen jedoch keiner Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 BGB. Eine solche finde gem. § 307 Abs. 3 S. 1 BGB nur bei Abweichung von Rechtsvorschriften statt. Gemäß § § 310 Abs. 4 S. 3 BGB stünden Tarifverträge Rechtsvorschriften i. S. d. § 307 Abs. 3 BGB gleich.
Die Rückzahlungsregelung, die sich aus der tarifvertraglichen Stichtagsregelung ergibt, verstoße nach Ansicht des BAG auch nicht gegen höherrangiges Recht, insbesondere nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Aufgrund der sich aus Art. 9 Abs. 3 GG ergebenden Tarifautonomie stehe den Tarifvertragsparteien ein weiter Gestaltungsspielraum zu, der den der Arbeitsvertrags- und Betriebsparteien übersteige. Die Tarifvertragsparteien hätten demnach eine Einschätzungsprärogative, soweit die betroffenen Interessen, die tatsächlichen Gegebenheiten und die Regelungsfolgen zu beurteilen seien. Ein Ermessensspielraum stehe ihnen bzgl. der inhaltlichen Gestaltung der Regelung zu.
Das BAG stellt klar, dass die Tarifvertragsparteien nicht verpflichtet seien, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Ein sachlich vertretbarer Grund reiche für die getroffene Regelung aus. Zwar greife die tarifvertragliche Regelung in die Berufsfreiheit des Busfahrers aus Art. 12 Abs. 1 GG ein, die Einschränkung sei aber noch verhältnismäßig. Die Grenzen des, im Vergleich zu einseitig gestellten Regelungen in AGB, erweiterten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien seien nicht überschritten.

Fazit

Tarifverträge werden nicht anhand einer Inhaltskontrolle, sondern eingeschränkt anhand von Verfassungsnormen und höherrangigem Recht kontrolliert. Stichtagsklauseln in Arbeitsverträgen oder Betriebsvereinbarungen, die eine Rückforderung von Sonderzahlungen mit Mischcharakter erlauben, hat das BAG in den letzten Jahren ausnahmslos für unwirksam gehalten. Die Ausnahme für Tarifverträge wegen ihres Rechtsnormcharakter greift nur, wenn auf den Tarifvertrag insgesamt Bezug genommen wurde. Eine punktuelle Inbezugnahme bestimmter Regelungen genügt also nicht.


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