Verjährung und Verfall von Urlaubsansprüchen

|| Arbeitsrecht

BAG Urteil vom 20.12.2022 Az. 9 AZR 266/20

Der Urlaubsanspruch eines Arbeitnehmers unterliegt nicht der Verjährung, wenn der Arbeitgeber seinen Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Damit ist ein Ansammeln von Urlaub, der in den Vorjahren nicht in Anspruch genommen wurde, über Jahre hinweg möglich.

Einleitung

Das BAG vertrat in seiner ständigen Rechtsprechung die Auffassung, dass der Arbeitgeber als Schuldner nicht verpflichtet sei, den Urlaubszeitraum von sich aus ohne einen vorherigen konkreten Urlaubswunsch des Arbeitnehmers festzulegen. Die Konsequenz dieser Rechtsprechung war, dass der Urlaubsanspruch mit Ablauf des Urlaubsjahres spätestens aber zum 31.03. des Folgejahres nach § 7 I 1, 3 BUrlG erlosch. Nur dann, wenn der Arbeitgeber trotz vorherigen Urlaubsverlangens des Arbeitnehmers keinen Urlaub gewährt, kam danach ein Schadensersatzanspruch des Arbeitnehmers in der Form in Betracht, dass der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer den nicht genommenen Urlaub ohne Rücksicht auf die gesetzliche Regelung zu dessen Verfall nachzugewähren hatte.

Der EuGH ist entgegen dieser überkommenen Rechtsprechung des BAG der Auffassung, dass es in der Verantwortung des Arbeitgebers liege, den Urlaub zu gewähren (Aktenzeichen C-619/16 und C-684/16). Nach EU-Recht dürfen Urlaubsansprüche unabhängig von einem Urlaubsantrag des Arbeitnehmers nicht automatisch verfallen, wenn der Arbeitnehmer von seinem Arbeitgeber nicht „durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde“, den Urlaubsanspruch auch wahrzunehmen.

In einer weiteren Entscheidung (9 AZR 245/19) stellte der EuGH zudem fest, dass auch im Falle einer lang andauernden Arbeitsunfähigkeit der Urlaubsanspruch bei einer verspäteten Information und Aufforderung auch nach Ablauf einer Frist von 15 Monaten nach Ende des Urlaubsjahres fortbestehen kann.

Die Entscheidung des BAG vom 20.12.2022 Az. 9 AZR 266/20 setzt diese Rechtsprechung des EuGH im deutschen Recht um.

Sachverhalt

Ausgangspunkt des vorliegenden Urteils war ein Rechtsstreit vor dem Arbeitsgericht Solingen (Urt. v. 19.2.2019, Az.: 3 Ca 155/18). Eine Steuerfachangestellte und Bilanzbuchhalterin klagte auf Abgeltung von 101 Urlaubstagen, die sie während des Arbeitsverhältnisses bis zu ihrem Ausscheiden Ende Juli 2017 nicht genommen hatte. Da immer viel zu tun war, konnte sie ihren Urlaub nie vollständig in Anspruch nehmen.

Das Arbeitsgericht wies die Klage auf Urlaubsabgeltung bis auf die Urlaubstage aus dem letzten Beschäftigungsjahr 2017 ab. Das LAG Düsseldorf (Urt. v. 21.2.2020, Az.: 10 Sa 180/19) gab der Klägerin dagegen Recht und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung von 17.376,64 € brutto als Abgeltung für den im Beschäftigungsverhältnis in den Vorjahren nicht genommenen Urlaub, obwohl die Steuerfachgehilfen keinen Urlaubsantrag gestellt und sich der Arbeitgeber auf die Einrede der Verjährung berufen hatte.

Zur Anfechtung dieser Entscheidung wandte sich der Arbeitgeber an das BAG.

Entscheidung

Das BAG bestätigte die Entscheidung des LAG Düsseldorf. Dieses hatte zur Begründung seines Urteils unter Berufung auf eine frühere Entscheidung des BAG vom 19.02.2019 - 9 AZR 423/16 -ausgeführt, dass der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub aus §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres (§ 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG) oder eines zulässigen Übertragungszeitraums (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und Satz 4 BUrlG) erlösche, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Verständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG treffe den Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkonformer Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers sei Voraussetzung für das Eingreifen der urlaubsrechtlichen Regelung zum Verfall des Urlaubs in § 7 Abs. 3 BurlG. Danach setze die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Er müsse den Arbeitnehmer - erforderlichenfalls förmlich - auffordern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt.

Da gesetzliche Vorgaben fehlten, sei der Arbeitgeber grundsätzlich in der Auswahl der Mittel frei, deren er sich zur Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten bedient. Die Mittel müssten jedoch zweckentsprechend sein. Sie müssten geeignet sein, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt. Es sei der Eintritt einer Situation zu vermeiden, in der ein Arbeitnehmer auf Veranlassung des Arbeitgebers davon abgehalten werden kann, seine Rechte gegenüber seinem Arbeitgeber geltend zu machen. Ob der Arbeitgeber das Erforderliche getan hat, um seinen Mitwirkungsobliegenheiten zu genügen, sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen. Die Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten habe der Arbeitgeber darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, weil er hieraus eine für sich günstige Rechtsfolge ableitet.

Der Arbeitgeber müsse durch Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten den Urlaubsanspruch an das Urlaubsjahr binden. Erst wenn der Arbeitnehmer nach der gebotenen Aufklärung seinen Urlaub dennoch nicht verlangt habe, verfalle sein Anspruch nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG mit Ablauf des Urlaubsjahres. Lägen die Voraussetzungen einer Übertragung des Urlaubs nach § 7 Abs. 3 Satz 2 oder Satz 4 BUrlG vor, werde der Urlaub "von selbst" auf die ersten drei Monate des Folgejahres übertragen. Der Urlaubsanspruch könne in diesem Fall grundsätzlich nur dann mit Ablauf des Übertragungszeitraums untergehen, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nochmals auffordert, seinen Urlaub noch innerhalb des Übertragungszeitraums zu nehmen, und ihn darauf hinweist, dass der Urlaubsanspruch anderenfalls erlischt.

Habe der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten hingegen nicht entsprochen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber könne deshalb das uneingeschränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nehme der Arbeitnehmer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfalle der Urlaub am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums.

Der Arbeitgeber hatte sich im Verfahren darauf berufen, dass die Arbeitnehmerin selbst einen Überblick über ihre jeweiligen Resturlaubsansprüchen aus dem Urlaubsjahr gehabt habe, sodass sie es in der Hand hatte, den ihr zustehenden Urlaub zu beantragen und in Anspruch zu nehmen. Diese Argumentation hat das LAG Düsseldorf nicht gelten lassen. Die Obliegenheit des Arbeitgebers, dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch verwirklichen könne, sei damit nicht entfallen. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setze voraus, dass der Arbeitgeber konkret "dafür Sorge trägt", dass der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Bei der europarechtlich gebotenen richtlinienkonformen Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG sei der Arbeitgeber verpflichtet, von sich aus in die Initiative zu gehen. Mit dieser Initiativlast lasse sich das rein passive Verhalten, nicht in Einklang bringen.

Das BAG hat nach der veröffentlichten Pressemitteilung auch die Einrede der Verjährung nicht durchgreifen lassen. Zwar fänden die Vorschriften über die Verjährung (§ 214 Abs. 1, § 194 Abs. 1 BGB) auf den gesetzlichen Mindesturlaub Anwendung. Die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren beginne bei einer richtlinienkonformen Auslegung des § 199 Abs. 1 BGB jedoch nicht zwangsläufig mit Ende des Urlaubsjahres, sondern erst mit dem Schluss des Jahres, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer über seinen konkreten Urlaubsanspruch und die Verfallfristen belehrt und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat. Die Gewährleistung der Rechtssicherheit dürfe nicht als Vorwand dienen, um zuzulassen, dass sich der Arbeitgeber auf sein eigenes Versäumnis berufe, den Arbeitnehmer in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben. Der Arbeitgeber könne die Rechtssicherheit gewährleisten, indem er seine Obliegenheiten gegenüber dem Arbeitnehmer nachhole.

Fazit

Arbeitnehmer müssen beachten, dass Urlaubsansprüche zwar angesammelt werden können, der Urlaubsabgeltungsanspruch aber innerhalb einer gegebenenfalls bestehenden Ausschlussfrist geltend gemacht werden muss und nach seinem Entstehen mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses den Verjährungs- und Verfallfristen unterfallen (BAG v. 24.5.2022, Az.: 9 AZR 461/21).

Die Obliegenheiten für den Arbeitgeber, um ein Ansammeln von Urlaubsansprüchen zu verhindern, sind weitreichend. Wenn sie sicher erfüllt werden sollen, muss der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer unabhängig von einer etwa bestehenden Arbeitsunfähigkeit schon zu Beginn eines Urlaubsjahres konkret mitteilen, wie viele Urlaubstage aus dem Vorjahr übernommen wurden, wie viele Urlaubstage im laufenden Urlaubsjahr neu hinzugekommen sind und ihn explizit darauf hinweisen, dass der Urlaub rechtzeitig beantragt werden muss, um zu verhindern, dass der Resturlaub zum 31.03. des Folgejahres sowie der Urlaub aus dem laufenden Urlaubsjahr am Jahresende verfällt. Rechtzeitig vor Ende des Urlaubsjahres sollte der Arbeitgeber diejenigen Arbeitnehmer, bei denen noch Resturlaubsansprüche offenstehen, die Anzahl der verbliebenen Urlaubstage mitteilen und den Hinweis auf deren Verfall am Jahresende erneuern. Schließlich sollte der Arbeitnehmer bei allen Arbeitnehmern, die ihren Anspruch im laufenden Urlaubsjahr nicht genommen haben, z.B. weil sie arbeitsunfähig erkrankt waren, im Übertragungszeitraum nochmals auf den Verfall des übertragenen Resturlaubs zum Stichtag 31.03. des Folgejahres hinweisen. Formgebunden sind die erforderlichen Hinweise nicht. Sie müssen aber im Streitfall bewiesen werden. Ob ein Hinweis auf der Lohnabrechnung genügt, ist zweifelhaft. Jedenfalls genügt es nicht, wenn der Arbeitgeber auf der Lohnabrechnung eine bestimmte Anzahl von Urlaubstagen ausweist und genommene und offene Urlaubstage fortlaufend saldiert.


zurück